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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1995:T085095.19951121
Datum der Entscheidung: 21 November 1995
Aktenzeichen: T 0850/95
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer: G 0008/95
Anmeldenummer: 89311913.1
IPC-Klasse: C04B 11/024
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ | OJ v2
Bezeichnung der Anmeldung:
Name des Anmelders: US GYPSUM
Name des Einsprechenden:
Kammer: 3.3.02
Leitsatz: Der Großen Beschwerdekammer wird nach Artikel 112 (1) a) EPÜ die folgende Rechtsfrage vorgelegt:
Ist für Beschwerden gegen die Entscheidung einer Prüfungsabteilung, einen Antrag nach Regel 89 EPÜ auf Berichtigung des Erteilungsbeschlusses zurückzuweisen, eine Technische Beschwerdekammer (Art. 21 (3) a), b) EPÜ) oder die Juristische Beschwerdekammer (Art. 21 (3) c) EPÜ) zuständig?
Wer entscheidet über die Zuständigkeit, wenn die Antwort von der Lage des Einzelfalles abhängt?
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 21(3)
European Patent Convention 1973 Art 112(1)(a)
European Patent Convention 1973 R 89
Schlagwörter: Zuständigkeit der Beschwerdekammern
Zurückweisung einer Berichtigung des Erteilungsbeschlusses
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/94
J 0012/85
J 0027/86
J 0030/94
T 0546/90
T 0946/91
Anführungen in anderen Entscheidungen:
G 0001/10
J 0016/99
J 0025/10
T 0953/96
T 0740/00
T 0282/01
T 1093/05
T 0603/07
T 1349/08
T 1145/09
T 1495/09
T 1869/12
T 0084/16

Sachverhalt und Anträge

I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 89 311 913.1 mit Benennung Spaniens und Griechenlands wurde unter Beanspruchung der Priorität einer Voranmeldung in den Vereinigten Staaten von Amerika am 16. November 1989 eingereicht. Die Prüfungsabteilung teilte dem Anmelder am 30. Mai 1994 die Fassung mit, in der das Patent erteilt werden sollte. Mit Schreiben vom 7. September 1994 billigte der Anmelder die für die Erteilung vorgesehene Fassung. Nachdem die formellen Erfordernisse nach Regel 51 (6) EPÜ erfüllt waren, erging am 23. Februar 1995 der Erteilungsbeschluß.

II. Mit Telefax vom 10. März 1995 reichte der Anmelder zwei zusätzliche Seiten 4a und 4b der Beschreibung ein und beantragte ihre Aufnahme in die Patentschrift, bevor sie veröffentlicht werde. Am 17. März 1995 erging an den Anmelder die Mitteilung, daß die technischen Vorbereitungen für die Veröffentlichung der Patentschrift vor Eingang des Telefax vom 10. März 1995 abgeschlossen gewesen seien und daß ein Antrag auf Änderung des Erteilungsbeschlusses nach Erhalt der gedruckten Patentschrift gestellt werden könne. Mit Telefax vom 18. April 1995 beantragte der Anmelder die Neuveröffentlichung des Patents mit den beigefügten fehlenden Seiten.

III. Am 8. Mai 1995 erließ die Prüfungsabteilung unter Verwendung des Vordrucks 2053 eine “Entscheidung über die Ablehnung eines Antrages auf Berichtigung von Fehlern in Entscheidungen (Regel 89 EPÜ)” mit folgender Begründung: “Die genannten Berichtigungen beziehen sich nicht auf Stellen der Patentschrift, für welche die Prüfungs- bzw. Einspruchsabteilung ihrer Entscheidung einen anderen Text zugrunde legen wollte (Richtlinien Teil E-X, 10).”

IV. Am 14. Juni 1995 wurde Beschwerde eingelegt; die entsprechende Gebühr wurde am 22. Juni 1995 entrichtet. In der mit einem Schreiben vom 8. September 1995 eingereichten Beschwerdebegründung machte der Beschwerdeführer geltend, die Seiten 4a und 4b seien bei der Einreichung eines vollständigen Satzes von Ersatzseiten der Anmeldungsunterlagen am 25. März 1994 aufgrund des Versehens einer Bürokraft nicht beigefügt worden. Der Wortlaut habe identisch sein sollen mit dem der zuvor eingereichten korrespondierenden Euro-PCT- Anmeldung 90 901 172.8, in der zum damaligen Zeitpunkt die Benennung Spaniens und Griechenlands nicht möglich gewesen sei. Auf diese Absicht sei bei der Einreichung der geänderten Patentschrift ausdrücklich hingewiesen worden. Die zusätzlichen Seiten enthielten Text, der die Ansprüche 6, 9, 10, 12 und 17 in der vom Prüfer befürworteten und akzeptierten Fassung stütze und diesen entspreche.

Entscheidungsgründe

1. Mit der zulässigen Beschwerde wird die Entscheidung der Prüfungsabteilung angefochten, einen Antrag nach Regel 89 EPÜ auf Berichtigung des Erteilungsbeschlusses zurückzuweisen.

2. Diese Kammer ist nur dann dafür zuständig, über diese Beschwerde zu entscheiden, wenn die Erfordernisse des Artikels 21 (3) a) EPÜ erfüllt sind, d. h., wenn die angefochtene Entscheidung die Erteilung des Patents betrifft.

2.1 In dieser Frage hat die Juristische Beschwerdekammer in der Sache J 30/94 am 9. Oktober 1995 befunden, daß eine Entscheidung, mit der ein Antrag auf Berichtigung nach Regel 89 EPÜ zurückgewiesen wird, nicht die Erteilung des Patents betreffe und daß für die Prüfung der Beschwerde nach Artikel 21 (3) c) EPÜ die Juristische Beschwerdekammer zuständig sei. Die Tatsache, daß der Berichtigungsantrag sich auf einen Erteilungsbeschluß bezieht, ändere nichts an der Zuständigkeit, denn angefochten werde ja die Entscheidung, einen Berichtigungsantrag zurückzuweisen, nicht aber der Erteilungsbeschluß.

2.2 In zwei früheren Entscheidungen hatte die Juristische Beschwerdekammer über einen Antrag nach Regel 89 EPÜ zu befinden. In der ersten Entscheidung (J 12/85, ABl. EPA 1986, 155) wurde die Beschwerde als unzulässig verworfen, da die Prüfungsabteilung über den Antrag noch nicht entschieden hatte. In der zweiten Entscheidung (J 27/86 vom 3. Oktober 1987), in der es um dieselbe Anmeldung ging, wurde die Entscheidung, die Aufnahme eines zusätzlichen Anspruchs im Wege der Berichtigung zurückzuweisen, wegen unzureichender Begründung (R. 68 (2) EPÜ) aufgehoben. In diesen Entscheidungen wurde die Frage der Zuständigkeit nicht speziell angesprochen.

2.3 Im Gegensatz dazu haben mindestens zwei Technische Beschwerdekammern – in den Entscheidungen T 546/90 vom 12. September 1991 und T 946/91 vom 17. August 1993 – ihre Zuständigkeit nach Artikel 21 (3) a) EPÜ akzeptiert, über Beschwerden gegen Entscheidungen auf Zurückweisung eines Antrags auf Berichtigung nach Regel 89 EPÜ zu befinden. Der Anmelder hatte in der Sache T 546/90 den Austausch von Zeichnungen und in der Sache T 946/91 die Berichtigung von Fehlern in der Definition bestimmter Verbindungen beantragt. In der Sache T 546/90 verwendete die Prüfungsabteilung den auch im vorliegenden Fall benutzten Vordruck 2053 für die Ablehnung des Antrags. In der Sache T 946/91 wurde die auf dem Formblatt 2053 vorgedruckte Begründung wie folgt ergänzt: “Alle beantragten Berichtigungen betreffen Fehler in der der Erteilung zugrunde liegenden Fassung. Eine Berichtigung nach Regel 89 ist nicht möglich, und Regel 88 ist nicht relevant.” In der Sache T 546/90 ließ die Kammer die Berichtigung – ohne Bezugnahme auf Regel 89 EPÜ – zu, mit der Begründung, das Einverständnis des Anmelders nach Regel 51 (4) EPÜ sei nicht richtig ausgelegt worden (s. Nr. 4 der Entscheidungsgründe); in der Sache T 946/91 wurde die Berichtigung auf der Grundlage der Regel 88 Satz 2 EPÜ zugelassen.

3. In Anbetracht dieser Uneinheitlichkeit in der Rechtsprechung hat die Kammer zu prüfen, ob sich aus dem EPÜ eine Antwort auf die Frage der Zuständigkeit herleiten läßt, die als geeignete Richtschnur dienen kann, sich an die eine oder die andere Gruppe von Entscheidungen anzulehnen.

3.1 Die einzige Entscheidung, in der es ausdrücklich um die Frage der Zuständigkeit geht, ist die Entscheidung J 30/94. Bei der dort genannten Begründung dürfte es sich jedoch nicht um die einzig mögliche Rechtsauslegung handeln. In der Entscheidung J 30/94 wurde dem Satzteil “wenn die Entscheidung … die Erteilung eines europäischen Patents betrifft” in Artikel 21 (3) a) EPÜ dieselbe Bedeutung beigemessen wie den Worten “wenn die angefochtene Entscheidung die Erteilung des europäischen Patents anordnet”, was zur Folge hatte, daß die Erfordernisse des Artikels 21 (3) a) EPÜ nicht als erfüllt angesehen wurden und somit in bezug auf die Zuständigkeit Artikel 21 (3) c) EPÜ zugrunde gelegt wurde.

3.2 Dem Wortlaut des fraglichen Satzes kann im weiteren Sinne allerdings auch die Bedeutung “wenn die angefochtene Entscheidung mit der Erteilung des europäischen Patents zusammenhängt” verliehen werden. Geht man von einer solchen Auslegung aus, so kann die Berichtigung des Erteilungsbeschlusses als mit der Patenterteilung zusammenhängend oder diese betreffend angesehen werden. Der Erteilungsbeschluß umfaßt mehrere Bestandteile, so z. B. die Tatsache, daß das Patent erteilt wird, daß es einer bestimmten Person erteilt wird, daß es für bestimmte benannte Staaten erteilt wird und daß es auf der Grundlage der endgültigen Fassung der Anmeldung erteilt wird (vgl. Art. 97 (2) EPÜ). Die Beschreibung, die Ansprüche und etwaige Zeichnungen sind im Erteilungsbeschluß (Formblatt 2006) nicht enthalten; dagegen sind sie wesentliche Bestandteile dieses Beschlusses und werden darin durch entsprechende Verweisung genannt. Andernfalls könnten sie nicht durch Berichtigung des Erteilungsbeschlusses berichtigt werden. Jede Änderung eines wesentlichen Bestandteils des Erteilungsbeschlusses ändert auch dessen Wirkungen und hängt deshalb mit der Erteilung zusammen. Ein Berichtigungsantrag bezweckt in gleicher Weise die Änderung des Erteilungsbeschlusses wie eine Beschwerde gegen den Beschluß selbst. Es war daher kein Zufall, daß in der Sache J 12/85 vom Beschwerdeführer beantragt wurde, entweder die Unterlagen zu ändern oder den Erteilungsbeschluß aufzuheben.

3.3 Läßt eine Bestimmung vom Wortlaut her unterschiedliche Auslegungen zu, so ist unter anderem dem Sinn und Zweck der Bestimmung Rechnung zu tragen (G 1-6/83, ABl. EPA 1985, 60, Nr. 5 der Entscheidungsgründe; G 1/94, ABl. EPA 1994, 787, Nr. 7 der Entscheidungsgründe). Unter diesem Gesichtspunkt könnte die richtige Zusammensetzung der Kammer unter anderem danach festgelegt werden, ob es im betreffenden Fall eher um rechtliche oder eher um technische Fragen geht, denn die in Artikel 21 (3) a) und c) EPÜ getroffene Unterscheidung läßt die Absicht des Gesetzgebers erkennen, Fälle mit erfahrungsgemäß rechtlicher Problematik durch die Juristische Beschwerdekammer und Fälle mit technischem Schwerpunkt durch die Technischen Beschwerdekammern überprüfen zu lassen (Gori/Löden, Münchner Gemeinschaftskommentar zum EPÜ, 18. Lieferung (1995), Art. 21 EPÜ, Rdnr. 63). Diesbezüglich kann auf verschiedene Gesichtspunkte abgehoben werden.

3.3.1 Einerseits wirft die Anwendung der Regel 89 EPÜ rechtliche Fragen auf. Es kann durchaus unklar sein, wann die Regel 89 EPÜ und wann die Regel 88 EPÜ anzuwenden ist (siehe z. B. die unter Nr. 2.3 erwähnte Entscheidung T 946/91). Ferner muß entschieden werden, auf welcher Grundlage eine Berichtigung zugelassen werden soll. Insbesondere muß festgelegt werden, welche Unterlagen maßgeblich sind und aus wessen Sicht ein angeblicher Fehler zu betrachten ist (vgl. diesbezüglich die Auslegung in den Richtlinien für die Prüfung im EPA, E-X, 10, die in der angefochtenen Entscheidung angeführt sind).

3.3.2 Andererseits kann es sich im Zuge einer Entscheidung über einen Antrag auf Berichtigung einer Entscheidung einer Prüfungsabteilung als notwendig erweisen, daß die Kammer die Überlegungen der Prüfungsabteilung, die zum Erteilungsbeschluß führten, nachvollzieht. Dabei wird es sich in erster Linie um technische Überlegungen handeln, die das Wesen der Erfindung betreffen. Ein Beispiel für einen solchen Fall dürfte in der Entscheidung T 946/91 zu finden sein.

4. Da aus dem Sinn und Zweck des Artikels 21 (3) a) und c) EPÜ keine klare Antwort auf die Frage der Zuständigkeit abgeleitet werden kann, ist es angezeigt, zur weiteren Klärung die Materialien zum EPÜ heranzuziehen (G 1-6/83, a. a. O.; G 1/94, a. a. O., Nr. 8 der Entscheidungsgründe). Aus den Materialien geht hervor, daß im Haertel-Entwurf für eine Ausführungsordnung zum EPÜ die Zuständigkeit der Technischen Beschwerdekammern enger definiert war (Dok. vom 9. April 1963, S. 9, Nr. 1 betreffend Art. 58, in: Materialien zum EPÜ, München, 1981; keine englischen Fassungen in der EWG-Phase der Vorarbeiten).

Der Wortlaut wurde auf die endgültige Entscheidung, die Anmeldung zurückzuweisen oder ein Patent zu erteilen beschränkt.. Aus den Materialien geht nicht hervor, warum später die weiter gefaßte Formulierung “die Zurückweisung … oder die Erteilung … betrifft” gewählt wurde. Es folgte zwar eine Aufstellung von Fällen, über die zu entscheiden die Juristische Beschwerdekammer befugt sein sollte (Dok. vom 9. April 1963, a. a. O., S. 9 ff.), aber offensichtlich kam es zu keinem Zeitpunkt zu einer Erörterung der speziellen Zuständigkeit für Beschwerden gegen eine Entscheidung, einen Berichtigungsantrag zurückzuweisen. Auch ist kein offenkundiger Hinweis darauf zu finden, daß die Zuständigkeit der Juristischen Beschwerdekammer generell erweitert oder eingeschränkt werden sollte.

5. Die Kammer vermag – kurz gesagt – nicht zu einem eindeutigen Schluß hinsichtlich der Auslegung des Artikels 21 (3) a) EPÜ zu gelangen, der die im Zusammenhang mit den einschlägigen angeführten Entscheidungen aufgekommenen Zweifel ausräumen würde. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte es aber in Fragen der Zuständigkeit keine Zweifel geben. Insbesondere sollte die Zusammensetzung einer Kammer, die über eine Beschwerde zu entscheiden hat, nicht davon abhängig gemacht werden, wen die erste Instanz als Empfänger der Akte auswählt. Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung hält es die Kammer für angebracht, diese Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung der Großen Beschwerdekammer zur Entscheidung vorzulegen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Der Großen Beschwerdekammer wird nach Artikel 112 (1) a) EPÜ die folgende Rechtsfrage vorgelegt:

Ist für Beschwerden gegen die Entscheidung einer Prüfungsabteilung, einen Antrag nach Regel 89 EPÜ auf Berichtigung des Erteilungsbeschlusses zurückzuweisen, eine Technische Beschwerdekammer (Art. 21 (3) a), b) EPÜ) oder die Juristische Beschwerdekammer (Art. 21 (3) c) EPÜ) zuständig?

Wer entscheidet über die Zuständigkeit, wenn die Antwort von der Lage des Einzelfalles abhängt?