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European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1990:G000189.19900502 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 02 Mai 1990 | ||||||||
Aktenzeichen: | G 0001/89 | ||||||||
Anmeldenummer: | – | ||||||||
IPC-Klasse: | C10M 145/22 | ||||||||
Verfahrenssprache: | EN | ||||||||
Verteilung: | |||||||||
Download und weitere Informationen: |
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Bezeichnung der Anmeldung: | – | ||||||||
Name des Anmelders: | nicht veröff. | ||||||||
Name des Einsprechenden: | – | ||||||||
Kammer: | EBA | ||||||||
Leitsatz: | Die Vereinbarung zwischen der Europäischen Patentorganisation und der WIPO vom 7. Oktober 1987, die in Artikel 2 das EPA dazu verpflichtet, nach den PCT-Richtlinien für die internationale Recherche vorzugehen, ist für das EPA als Internationale Recherchenbehörde (ISA) und für die Beschwerdekammern des EPA bei der Entscheidung über Widersprüche gegen nach Artikel 17 (3) a) PCT angeforderte zusätzliche Recherchengebühren bindend. Daher kann, wie in diesen Richtlinien vorgesehen, die Feststellung nach Artikel 17 (3) a) PCT, daß eine internationale Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nicht erfüllt, nicht nur “a priori”, sondern auch “a posteriori”, also nach Berücksichtigung des Stands der Technik, getroffen werden. Diese Feststellung hat jedoch nur die verfahrensrechtliche Wirkung, daß das in Artikel 17 und Regel 40 PCT festgelegte besondere Verfahren in Gang gesetzt wird, und ist deshalb keine “materiellrechtliche Prüfung” im üblichen Sinne. | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: | |||||||||
Schlagwörter: | Zuständigkeit der Großen Beschwerdekammer bei Widersprüchen nach dem PCT Nichteinheitlichkeit a posteriori” |
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Orientierungssatz: |
– |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
Zusammenfassung der einschlägigen Bestimmungen und des Verfahrens
I. Das Europäische Patentamt (EPA) wird aufgrund einer nach Artikel 154 EPÜ und Artikel 16 PCT zwischen der Europäischen Patentorganisation und der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) geschlossenen Vereinbarung als Internationale Recherchenbehörde (ISA) im Sinne des Kapitels I des Patentzusammenarbeitsvertrags (PCT) vom 19. Juni 1970 tätig. Diese Vereinbarung (im folgenden “die Vereinbarung” genannt) ist am 7. Oktober 1987 geschlossen worden und am 1. Januar 1988 in Kraft getreten (ABl. EPA 1987, 515). Sie entspricht weitgehend einer früheren Vereinbarung vom 11. April 1978.
II. Die internationale Recherche und die Erstellung des internationalen Recherchenberichts nach den Artikeln 15 bis 18 PCT obliegen den Recherchenabteilungen des EPA in der Zweigstelle Den Haag. Gemäß Artikel 154 (3) EPÜ sind für Entscheidungen über Widersprüche von Anmeldern gegen vom EPA, d. h. den Recherchenabteilungen, nach Artikel 17 (3) a) PCT wegen (behaupteter) Nichteinheitlichkeit der Erfindung angeforderte zusätzliche Gebühren die Beschwerdekammern des EPA zuständig. Sie üben dabei die Funktion der in Regel 40.2 c) PCT genannten besonderen Instanz der ISA aus.
III. Gemäß Artikel 3 (4) iii) PCT hat eine internationale Anmeldung “den vorgeschriebenen Anforderungen an die Einheitlichkeit der Erfindung zu entsprechen”. Dies bedeutet, wie in Regel 13.1 PCT ausgeführt, daß sich die internationale Anmeldung nur auf eine einzige Erfindung oder eine Gruppe von Erfindungen beziehen darf, die so zusammenhängen, daß sie eine einzige allgemeine erfinderische Idee verwirklichen. Den für die Recherche (und vorläufige Prüfung) einer internationalen Anmeldung üblichen Gebühren (R. 16.1 a) und 58.1 a) PCT) liegt die Annahme zugrunde, daß die Anmeldungen diese Voraussetzung erfüllen. Andernfalls kann für jede weitere Erfindung eine zusätzliche Gebühr erhoben werden (Art. 17 (3) a) und 34 (3) a) PCT).
IV. Weder im PCT selbst noch in seiner Ausführungsordnung gibt es Bestimmungen darüber, wie zu entscheiden ist, ob eine internationale Anmeldung dem Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung entspricht oder nicht. In den vom Interimsausschuß für technische Zusammenarbeit in seiner siebten Sitzung im Oktober 1977 in Genf vereinbarten Richtlinien für die internationale Recherche nach dem PCT (PCT/INT/5) heißt es unter anderem, daß mangelnde Einheitlichkeit der Erfindung möglicherweise sofort – “a priori” -, d. h. vor einer Prüfung der Ansprüche im Hinblick auf den Stand der Technik, oder erst “a posteriori”, d. h. nach Berücksichtigung des Stands der Technik, erkennbar sein kann. Der letztere Fall wird in den Richtlinien durch folgendes Beispiel veranschaulicht: Anhand eines bei der internationalen Recherche aufgefundenen Dokuments zeigt sich, daß ein Hauptanspruch nicht neu ist und die verbleibenden zwei oder mehr abhängigen Ansprüche keine einzige allgemeine erfinderische Idee mehr verwirklichen (Kap. VII, Nr. 9). Nach Artikel 2 der unter Nummer I genannten Vereinbarung geht das EPA bei der Durchführung der internationalen Recherche nach diesen Richtlinien vor.
V. Was die Ausrichtung der internationalen Recherche anbelangt, so geht aus Regel 33.3 PCT hervor, daß diese Recherche auf der Grundlage der Ansprüche unter angemessener Berücksichtigung der Beschreibung und der Zeichnungen (soweit vorhanden) durchgeführt wird und besonders die erfinderische Idee, auf die die Ansprüche gerichtet sind, berücksichtigt. Soweit es möglich und sinnvoll ist, hat die internationale Recherche den gesamten Gegenstand zu erfassen, auf den die Ansprüche gerichtet sind oder auf den sie, wie vernünftigerweise erwartet werden kann, nach einer Anspruchsänderung gerichtet werden könnten.
VI. In ihrer Entscheidung W 03/88 vom 8. November 1988 stellte die Technische Beschwerdekammer 3.3.1 fest, daß die ISA viele Anmeldungen “zumindest einer vorläufigen Prüfung” auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit unterziehe und danach (a posteriori) die Einheitlichkeit der Erfindung beurteile. Dies verstoße gegen die im PCT vorgesehenen Pflichten und Befugnisse der ISA. In den Entscheidungsgründen unterschied die Kammer ganz klar zwischen den Pflichten der ISA nach Kapitel I PCT und denen der mit der internationalen vorläufigen Prüfung beauftragten Behörde (IPEA) nach Kapitel II PCT. Daß Kapitel II in den PCT aufgenommen worden sei, sei ein klarer Hinweis darauf, daß die ISA für die Prüfung auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit keine Zuständigkeit besitze. Die in Artikel 17 PCT genannten Aufgaben der ISA im Zusammenhang mit internationalen Anmeldungen beschränkten sich zweckentsprechend auf die Durchführung der internationalen Recherche und die Erstellung eines Recherchenberichts. Die Kammer vertrat ferner die Auffassung, daß das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nach Regel 13 PCT eine verfahrensrechtliche Anforderung im Zusammenhang mit der Durchführung der internationalen Recherche nach Artikel 17 PCT darstelle, die sicherstellen solle, daß der für die Recherche relevante Stand der Technik nach Regel 33 PCT auf das beschränkt werde, was mit Fug und Recht als eine einzige allgemeine erfinderische Idee betrachtet werden könne. Dieser Begriff wurde von der Kammer wie folgt ausgelegt (Nr. 6 der Entscheidungsgründe):
“Der Begriff ‘einzige allgemeine erfinderische Idee’ (Hervorhebung durch die Kammer) in Regel 13.1 PCT könnte auf den ersten Blick dahingehend mißverstanden werden, daß er eine Prüfung auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit erforderlich macht. Nach Auffassung der Kammer ist das Wort ‘erfinderisch’ in diesem Zusammenhang jedoch im Sinne von ‘nach Ansicht des Anmelders erfinderisch’ zu verstehen, d. h., es bezieht sich auf das, was der Anmelder zum Zeitpunkt der Anmeldung unabhängig vom Stand der Technik für seine Erfindung hält und worin die (etwaige) patentierbare Erfindung daher besteht. Mit anderen Worten, die ‘allgemeine erfinderische Idee’ im Sinne der Regel 13.1 PCT ist einfach die allgemeine Vorstellung davon, was der Anmelder subjektiv als seine Erfindung beansprucht.”
In der Entscheidung W 03/88 wurde auf die unter Nummer IV genannten PCT-Richtlinien nicht Bezug genommen.
VII. In ihrer Entscheidung W 44/88 vom 31. Mai 1989 vertrat die Technische Beschwerdekammer 3.4.1 eine andere Auffassung in der Frage, wie festgestellt werden soll, ob eine internationale Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung erfüllt. Die Kammer gelangte zu dem Schluß, daß die ISA aufgrund des PCT und seiner Ausführungsordnung sowohl die Befugnis als auch die Verpflichtung habe, dieses Erfordernis nicht nur “a priori”, sondern auch “a posteriori” zu untersuchen. Außerdem müsse sich das EPA als ISA an die PCT-Richtlinien halten, soweit diese nicht im Gegensatz zum PCT oder seiner Ausführungsordnung stünden, was hier nicht der Fall sei.
In den Entscheidungsgründen wurde darauf hingewiesen, daß die Feststellung, ob eine internationale Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung erfülle, den Umfang der durchzuführenden Recherche unmittelbar bestimme.
VIII. In ihrer Entscheidung W 35/88 vom 7. Juni 1989 gelangte die Technische Beschwerdekammer 3.5.1 in der Frage, ob das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung von der ISA “a posteriori” untersucht werden dürfe, zu derselben Auffassung wie die Kammer 3.4.1. Sie bezog sich dabei insbesondere auf die PCT- Richtlinien in Verbindung mit Artikel 17 (3) a) und Regel 13.1 PCT.
IX. In ihrer Entscheidung W 12/89 vom 29. Juni 1989 untersuchte die Beschwerdekammer 3.3.1 im Rahmen eines anderen Widerspruchs nach Regel 40.2 c) PCT die Rechtslage im Hinblick darauf, daß die Kammern 3.4.1 und 3.5.1 nicht bereit gewesen waren, sich der Entscheidung W 03/88 anzuschließen. Die Kammer 3.3.1 war von der Argumentation in den Entscheidung W 44/88 und W 35/88 nicht überzeugt und konnte sich der Auffassung nicht anschließen, daß die Vereinbarung oder die PCT-Richtlinien an der vorrangigen Pflicht sowohl der ISA als auch der Beschwerdekammern, die Rechtsvorschriften des PCT in der richtigen Auslegung anzuwenden, etwas ändern könnten. Die Kammer 3.3.1 wollte daher auch bei der Entscheidung in der ihr nun vorliegenden Sache ihrer früheren Entscheidung W 03/88 folgen. Da es sich jedoch herausgestellt hatte, daß die Rechtsanwendung hinsichtlich der Befugnisse und Pflichten der ISA nach Artikel 17 (3) a) PCT von den Beschwerdekammern nicht einheitlich gehandhabt wurde und dieser Zustand unbefriedigend war, beschloß die Kammer 3.3.1, der Großen Beschwerdekammer gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ die folgenden drei Rechtsfragen vorzulegen (Sache G 1/89):
1. Ist die Internationale Recherchenbehörde befugt, eine internationale Anmeldung materiellrechtlich auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit zu prüfen, wenn sie gemäß Artikel 17 (3) a) PCT untersucht, ob die Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nach Regel 13.1 PCT erfüllt?
2. Wenn ja, unter welchen Umständen ist die Internationale Recherchenbehörde dann verpflichtet, diese materiellrechtliche Prüfung vorzunehmen?
3. Ist die Vereinbarung zwischen der EPO und der WIPO “vom 1. Januar 1988” für das EPA als ISA und für die Beschwerdekammern des EPA bindend?
X. Mit Schreiben vom 3. August 1989 ersuchte der Präsident des EPA, der festgestellt hatte, daß die Beschwerdekammern 3.3.1 und 3.4.1 in der Sache W 03/88 bzw. W 44/88 (siehe Nr. VI und VII) voneinander abweichende Entscheidungen getroffen hatten, die Große Beschwerdekammer gemäß Artikel 112 (1) b) EPÜ, sich dazu zu äußern, ob das EPA als ISA nach Artikel 17 (3) a) PCT eine weitere Recherchengebühr verlangen könne, wenn es die internationale Anmeldung “a posteriori” nicht mehr für einheitlich halte (Sache G 2/89).
XI. In einer seinem Schreiben beigefügten Erläuterung teilte er der Großen Beschwerdekammer mit, daß das EPA 1988 7655 internationale Recherchen durchgeführt habe und daß in 230 Fällen Einwände wegen mangelnder Einheitlichkeit der Erfindung erhoben worden seien. Obwohl darüber keine Statistik vorliege, werde davon ausgegangen, daß in etwa 30 bis 40 dieser 230 Fälle die Beanstandung “a posteriori” erfolgt sei. In einer Stellungnahme zur Entscheidung W 03/88 wies er unter anderem auf folgendes hin:
“In ihrer Entscheidung W 03/88 stellte die Beschwerdekammer 3.3.1 im wesentlichen darauf ab, daß das Wort ‘erfinderisch’ in dem Ausdruck ‘einzige allgemeine erfinderische Idee’ in Regel 13.1 PCT im Sinne von ‘nach Ansicht des Anmelders erfinderisch’ zu verstehen sei, d. h., es beziehe sich auf das, was der Anmelder zum Zeitpunkt der Anmeldung für seine Erfindung halte.
Hierzu ist anzumerken, daß die häufig gemachte Unterscheidung zwischen “a priori” und “a posteriori” festgestellter Nichteinheitlichkeit der Erfindung im Grunde künstlich ist, da die Grenze fließend ist. Bei einer “a-priori”-Feststellung der Nichteinheitlichkeit wird vom allgemeinen Wissensstand des Fachmanns ausgegangen, während einer “a-posteriori”-Feststellung das Wissen aus einer bestimmten Vorveröffentlichung zugrunde liegt. Der Unterschied zwischen allgemeinem Wissensstand und besonderem Wissen ist jedoch nur graduell.
Die Entscheidungsbegründung gibt insofern zur Sorge Anlaß, als sie eigentlich zugunsten eines subjektiven Kriteriums für den Verzicht auf ein objektives Kriterium zur Beurteilung der Einheitlichkeit der Erfindung eintritt. Außerdem führt sie dazu, daß die ISA eine Recherche zu in Wirklichkeit zwei oder mehr Erfindungen durchführen muß, nur weil der Anmelder behauptet, es sei nur eine. Hierfür erhält die ISA nur eine einzige Recherchengebühr. Selbst wenn sich im späteren Erteilungsverfahren herausstellt, daß es sich tatsächlich um mehr als eine Erfindung handelt, kann die ISA unter Umständen keine Recherchengebühr nachfordern, etwa wenn der Anmelder auf die weiteren Erfindungen verzichtet.
Andererseits entsteht dem Anmelder kein Rechtsverlust, wenn er beschließt, entgegen der Aufforderung der ISA keine weitere Recherchengebühr zu entrichten. Zwar sind die Bestimmungsämter befugt, Gegenstände, die wegen Nichtentrichtung zusätzlicher Recherchengebühren nicht recherchiert worden sind, als zurückgenommen zu betrachten; sie sind jedoch verpflichtet, dem Anmelder Gelegenheit zu geben, diese Rechtsfolge (soweit sie im nationalen Recht vorgesehen ist) dadurch zu vermeiden, daß er eine besondere Gebühr zahlt (Art. 17 (3) PCT, vgl. R. 104b (3) EPÜ).”
XII. Am 14. September 1989 beschloß die Große Beschwerdekammer, die ihr in der Sache G 1/89 und G 2/89 vorgelegten Rechtsfragen entsprechend Artikel 8 ihrer Verfahrensordnung gemeinsam zu behandeln, weil sie ähnliche Sachverhalte betrafen.
XIII. Mit Bescheid vom 9. Oktober 1989 wurde die Anmelderin in der Sache G 1/89 (W 12/89) über die Vorlage der Rechtsfrage durch den Präsidenten des EPA in der Sache G 2/89 unterrichtet und ihr Gelegenheit gegeben, sich innerhalb von drei Monaten gegenüber der Großen Beschwerdekammer hierzu zu äußern. Bei der Kammer ist jedoch keine Stellungnahme eingegangen.
Entscheidungsgründe
1. Die Große Beschwerdekammer mußte sich hier erstmals mit den besonderen Aufgaben der Beschwerdekammern nach Artikel 154 (3) EPÜ, nämlich die Entscheidung über Widersprüche gegen nach Artikel 17 (3) a) PCT angeforderte zusätzliche Recherchengebühren, befassen. Da diese Aufgaben grundsätzlich vom PCT geregelt werden und nicht unter das EPÜ fallen, hat die Große Beschwerdekammer von Amts wegen geprüft, ob sie nach Artikel 112 EPÜ dafür zuständig ist, zu diesen Fragen eine Entscheidung zu treffen oder Stellung zu nehmen. Hierzu ist festzustellen, daß nach Artikel 150 (2) EPÜ das EPÜ ergänzend zum PCT zur Anwendung kommt, wenn eine internationale Anmeldung Gegenstand von Verfahren vor dem EPA ist. Der PCT enthält keine Bestimmungen, die denen des EPÜ über die Große Beschwerdekammer vergleichbar wären. Die Befassung der Großen Beschwerdekammer hat vor allem den Zweck, eine einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen. Dies ist natürlich nach dem PCT ebenso wichtig wie nach dem EPÜ. Soweit die Beschwerdekammern des EPA für die Anwendung des PCT zuständig sind, ist es deshalb gerechtfertigt und durchaus auch im Interesse der Anmelder, die vom PCT Gebrauch machen, daß Fragen im Zusammenhang mit dieser Rechtsanwendung nach Artikel 112 EPÜ der Großen Beschwerdekammer vorgelegt werden können. Somit ist die Große Beschwerdekammer für alle ihr hier vorgelegten Fragen zuständig.
2. Es ist auch das erste Mal, daß der Präsident des EPA von seiner Befugnis nach Artikel 112 (1) b) EPÜ Gebrauch gemacht hat, bei voneinander abweichenden Entscheidungen zweier Beschwerdekammern die betreffende Rechtsfrage der Großen Beschwerdekammer vorzulegen. Im Hinblick auf die steigende Zahl der jährlich von den Beschwerdekammern erlassenen Entscheidungen dürfte jedoch die Ausübung der dem Präsidenten zustehenden Befugnis, eine einheitliche Rechtsanwendung durch die steigende Zahl der Beschwerdekammern sicherzustellen, an Bedeutung gewinnen. Vor diesem Hintergrund ist es zweifellos wünschenswert, daß die Beschwerdekammern in allen Entscheidungen, bei denen sie sich bewußt sind, daß sie in einer wichtigen Frage von der Rechtsauslegung einer früheren Entscheidung einer anderen Beschwerdekammer abweichen, in einer der Sachlage im Einzelfall angemessenen Weise auf diese Abweichung hinweisen und sie begründen, damit der Präsident entsprechend tätig werden kann.
3. Bevor sich die Große Beschwerdekammer dem Kern der ihr vorliegenden Frage zuwendet, möchte sie die allgemeine Bemerkung vorausschicken, daß die hier zugrunde liegenden Probleme hauptsächlich darauf zurückzuführen sind, daß die Recherche und die (materiellrechtliche) Prüfung sowohl nach dem PCT als auch nach dem EPÜ in getrennten, aufeinanderfolgenden Verfahrensschritten und von verschiedenen Prüfern durchgeführt werden. Diese verfahrenstechnische Trennung von Recherche und Prüfung führt wegen der funktionellen Beziehung zwischen der Recherche und der Prüfung zwangsläufig zu Überschneidungen. Wenn sich die Recherche auch grundsätzlich darauf beschränkt, den relevanten Stand der Technik für die spätere Beurteilung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit durch die prüfende Behörde (d. h. die IPEA und/oder das Bestimmungsamt nach dem PCT bzw. die Prüfungsabteilung nach dem EPÜ) zu ermitteln und darüber zu berichten, so liegt es doch auf der Hand, daß sich der Recherchenprüfer oft eine vorläufige Meinung über diese Fragen bilden muß, um eine effiziente Recherche durchführen zu können. Andernfalls wäre es ihm schlicht unmöglich, die Relevanz der Dokumente des Stands der Technik zu beurteilen und den Recherchenbericht entsprechend abzufassen. Diese Überschneidung liegt im PCT und im EPÜ begründet und steht im Gegensatz zu den meisten nationalen Patentsystemen, bei denen Recherche und Prüfung in einem Arbeitsgang und in der Regel vom selben Prüfer durchgeführt werden, so daß es – anders als nach dem PCT und dem EPÜ – auch keine getrennte Recherchen- und Prüfungsgebühr gibt.
4. Das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nach dem PCT (vgl. Nr. III) gilt auch für das Verfahren vor der ISA und vor der IPEA nach Artikel 17 (3) a) bzw. 34 (3) a) PCT, was wiederum in Einklang mit der oben genannten verfahrensrechtlichen Trennung von Recherche und Prüfung steht und dem Grundsatz entspricht, daß die normale Recherchen- und Prüfungsgebühr – wie unter Nr. III dargelegt – nur für eine Erfindung (oder eine einzige allgemeine erfinderische Idee) gilt. Dies führt nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer zu der Schlußfolgerung, daß das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nach dem PCT sowohl von der ISA als auch von der IPEA grundsätzlich nach denselben objektiven Kriterien beurteilt werden muß. Somit kann sich die Große Beschwerdekammer der Auffassung der Beschwerdekammer 3.3.1 in deren Entscheidung W 03/88 nicht anschließen, daß sich die ISA – anders als die IPEA – bei der Beurteilung der Einheitlichkeit der Erfindung nur auf die allgemeine Vorstellung davon, was der Anmelder subjektiv als seine Erfindung beansprucht, beschränken muß (vgl. Nr. VI). Diese Auffassung geht nach Meinung der Großen Beschwerdekammer von einer zu engen Vorstellung von den Aufgaben und der Zuständigkeit der ISA nach dem PCT aus und läßt die unter Nr. 3 erläuterte funktionelle Beziehung zwischen Recherche und Prüfung außer acht.
5. Wie aus Nummer IV hervorgeht, wird in den PCT-Richtlinien für die internationale Recherche ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die ISA die Einheitlichkeit der Erfindung “a posteriori” untersucht, d. h. nach einer Beurteilung der Ansprüche im Hinblick auf ihre Neuheit und erfinderische Tätigkeit gegenüber dem Stand der Technik. Ein Vergleich mit den entsprechenden EPA- Richtlinien, der in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse ist, weil sich PCT und EPÜ hinsichtlich der Trennung von Recherche und Prüfung gleichen, zeigt, daß auch im EPÜ ausdrücklich vorgesehen ist, daß die Beurteilung der Einheitlichkeit der Erfindung durch die Recherchenprüfung “a posteriori” vorgenommen werden kann (Teil B, Kapitel VII, Nr. 5; vgl. R. 46 EPÜ). Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer ist dies eine Folge der unter Nummer 3 und 4 dargelegten besonderen Struktur des PCT und des EPÜ. Deshalb ist davon auszugehen, daß die Richtlinien in diesem Punkt mit dem PCT und dem EPÜ in Einklang stehen. Auch ist festzuhalten, daß die PCT-Richtlinien auf Artikel 56 PCT zurückgehen, der die Aufgaben des Ausschusses für technische Zusammenarbeit behandelt (vgl. insbesondere Art. 56 (3) ii) PCT und den Hinweis darauf, daß die Einheitlichkeit unter anderem der Arbeitsmethoden gewährleistet sein muß).
6. Wie ebenfalls unter Nummer IV erwähnt, muß das EPA gemäß Artikel 2 der Vereinbarung bei der Durchführung der internationalen Recherche nach den PCT-Richtlinien vorgehen. Die Beschwerdekammer 3.3.1 hat in ihrer Entscheidung W 12/89 die Frage gestellt, ob die Vereinbarung für das EPA als ISA und für die Beschwerdekammern des EPA bindend ist (vgl. Nr. IX). Die Vereinbarung hat ihre rechtliche Grundlage in Artikel 154 EPÜ und Artikel 16 PCT und ist deshalb für das EPA und seine Beschwerdekammern bei der Ausübung ihrer in Artikel 154 (3) EPÜ vorgesehenen besonderen Aufgaben nach dem PCT bindend. Soweit sich die der Großen Beschwerdekammer von der Kammer 3.3.1 vorgelegte Frage auf die vereinbarungsgemäße Pflicht der ISA bezieht, bei der Untersuchung der Einheitlichkeit der Erfindung nach den PCT-Richtlinien vorzugehen, wobei im Falle mangelnder Übereinstimmung zwischen den Richtlinien und dem PCT selbst letzterer als höherstehendes Recht maßgebend wäre, ergibt sich aus Nummer 5, daß die Richtlinien nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer in diesem Punkt mit dem PCT übereinstimmen. Folglich ist auch diese Verpflichtung insoweit bindend, als die PCT-Richtlinien hier grundsätzlich anzuwenden sind. Diese Anwendung ist im Einzelfall weitgehend Ermessenssache.
7. Dementsprechend kann das EPA als ISA gemäß Artikel 17 (3) a) PCT eine zusätzliche Recherchengebühr fordern, wenn es die internationale Anmeldung “a posteriori” für uneinheitlich hält.
8. In ihrer Entscheidung W 12/89 hat die Kammer 3.3.1 der Großen Beschwerdekammer zwei weitere Fragen vorgelegt, nämlich ob die ISA befugt ist, eine internationale Anmeldung “materiellrechtlich” auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit zu prüfen, wenn sie gemäß Artikel 17 (3) a) PCT untersucht, ob die Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nach Regel 13.1 PCT erfüllt, und unter welchen Umständen sie gegebenenfalls verpflichtet ist, diese “materiellrechtliche Prüfung” vorzunehmen (vgl. Nr. IX).
8.1. Nach dem üblichen Sprachgebrauch bezieht sich der Begriff “Prüfung” oder “materiellrechtliche Prüfung” auf die Tätigkeit der Behörden, die für die Entscheidung über die Patentierbarkeit zuständig sind, wie z. B. die Prüfungsabteilung des EPA oder – im Fall des PCT – die IPEA und/oder das Bestimmungsamt. Offensichtlich ist eine ISA nicht befugt, diese Tätigkeit auszuüben. Wie unter Nummer 3 dargelegt, darf sich die ISA im Hinblick auf die Durchführung einer effizienten Recherche nur eine vorläufige Meinung über die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit bilden. Diese Meinung ist für die oben genannten Behörden in keiner Weise bindend.
Derselbe Grundsatz gilt auch dann, wenn eine ISA “a posteriori” feststellt, daß eine internationale Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nach Regel 13.1 PCT nicht erfüllt. Diese Feststellung hat nur die verfahrensrechtliche Wirkung, daß das besondere Verfahren nach Artikel 17 und Regel 40 PCT in Gang gesetzt wird, und ist deshalb keine “materiellrechtliche Prüfung” im üblichen Sinn.
8.2. Hinzuzufügen wäre, daß bei der Untersuchung des Erfordernisses der Einheitlichkeit der Erfindung durch die ISA natürlich immer berücksichtigt werden sollte, daß dem Anmelder eine gerechte Behandlung zuteil wird und daß die zusätzliche Gebühr nach Artikel 17 (3) a) PCT nur in eindeutigen Fällen verlangt werden sollte. Da der Anmelder bei dieser Untersuchung nach dem PCT keine Gelegenheit zur Stellungnahme erhält, sollte die ISA bei der Beurteilung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit Zurückhaltung üben; sie soll in Grenzfällen nicht davon ausgehen, daß eine Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung wegen mangelnder Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit nicht erfüllt.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden,
daß die der Großen Beschwerdekammer von der Technischen Beschwerdekammer 3.3.1 in deren Entscheidung W 12/89 vorgelegten Rechtsfragen wie folgt beantwortet werden:
Die Vereinbarung zwischen der Europäischen Patentorganisation und der WIPO vom 7. Oktober 1987, die in Artikel 2 das EPA dazu verpflichtet, nach den PCT-Richtlinien für die internationale Recherche vorzugehen, ist für das EPA als ISA und für die Beschwerdekammern des EPA bei der Entscheidung über Widersprüche gegen nach Artikel 17 (3) a) PCT angeforderte zusätzliche Gebühren bindend. Daher kann, wie in diesen Richtlinien vorgesehen, die Feststellung nach Artikel 17 (3) a) PCT, daß eine internationale Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nicht erfüllt, nicht nur “a priori”, sondern auch “a posteriori”, d. h. nach Berücksichtigung des Stands der Technik, getroffen werden. Diese Feststellung hat jedoch nur die verfahrensrechtliche Wirkung, daß das in Artikel 17 und Regel 40 PCT festgelegte besondere Verfahren in Gang gesetzt wird, und ist deshalb keine “materiellrechtliche Prüfung” im üblichen Sinne.